Mittwoch, 16. November 2005
vergessene Kinder der Cités
„Gewalt kann in der Radikalisierung von Menschen und Gruppen gründen….die eine Zeit lang glauben, an der Moderne teilhaben zu können, oder tatsächlich teilhatten, bevor sie ausgestoßen werden…“

Der französische Soziologe Michel Wieviorka hat eine Studie veröffentlicht, die die gegenwärtigen Unruhen in den Vorstädten von Frankreichs Metropolen beleuchtet. Eine Studie, die nach den Gründen der Gewalt sucht und auch die brennenden Fragen beantwortet. Fragen, warum Individuen und Gruppen gewalttätig werden und welche Komponenten, sowohl sozial, ethnisch wie auch politisch zum Ausbruch von Vernichtung und Gewalt führen.



Eine Fahrt mit der Metro vom Zentrum in Paris in eine der Arbeitersiedlungen an der Peripherie ist wie ein Ankommen aus dem lieblichen und romantischen Pariser Bauch in einem anderen Kontinent, ein Eintauchen in den urbanen Horror. Graue, abgewohnte Hochhäuser zwischen verlassenen Lagerhallen und einer Schnellstrasse, Autobahn oder Hochgeschwindigkeitsbahnlinie; endlose schmucklose Betonfassaden entlang der Strassen. Viele der Cités sind nicht an Tramlinien angeschlossen oder haben keine Buslinien, ganz zu schweigen von kulturellen Einrichtungen wie Theater oder kultivierten Anlagen. Zwischen den hoch aufragenden, stehlenartigen Hochhäusern, teils noch aus den Fünfziger Jahren, gibt es nur wenig Spielplätze und die sind die meiste Zeit verdreckt und werden nicht gepflegt. Eine Trostlosigkeit, die sich in die Seele der Bewohner frisst - und um ihr zu entfliehen, muss man lange Wege bis zur nächsten Metro-Station oder zum Bahnhof überwinden. Die Hochhäuser bewohnen teils bis zu achthundert Personen. Sie sind heruntergekommen, die Lifte funktionieren nicht, die Bauweise ist so billig, dass man die Toilettenspülung über Stockwerke hört, ebenso wie jeden Streit und jede Gewalt unter den Familien oder Bewohnern.

2004 betrug die Arbeitslosenrate der 15- bis 59-Jährigen in den französischen Problemgebieten um Paris, Lyon, Marseille und im Elsass 20,7%, das Doppelte des Landesdurchschnitts. Die Verlierer sind mehrheitlich die Kinder und Enkel der Arbeiter, die in den Siebzigern, vor der Ölkrise aus dem Maghreb geholt, ja eher importiert wurden. Wenig oder schlecht ausgebildet waren sie die ersten Opfer der Deindustrialisierung und des neoliberalen Wirtschaftskurses, chancenlos und für die Wirtschaft nicht mehr brauchbar.

Michel Wieviorka spricht von einer Krise der Autoritäten, von einer Auflösung der sozialen Bande, dem Verfall der Institutionen. Der Autoritätsverfall beginnt in den Schulen mit überfüllten Klassen, Lehrern, die Berufsanfänger sind und erfahrungslos in die soziale Spannungssituation entlassen werden. Es gibt in vielen Schulen der Cités keine Mischung zwischen Kindern von Migranten und Franzosen, eine frühe Integration in die Gesellschaft außerhalb der Wohnsilos ist damit ausgeschlossen. Zumal eine Integration weder in die französische Gesellschaft noch in die der ursprünglichen Herkunft der Eltern vor sich geht und ein Einleben nur in den zur Alltäglichkeit gewordenen Ausnahmezustand, sowohl psychisch als auch physisch geschieht. Eltern, wenn Sie Arbeit haben, sind aufgrund der langen Wege bis in die späten Abendstunden außer Haus und die Kinder meist unbeaufsichtigt. Bei Langzeitarbeitslosen ist die psychische Autorität von vornherein untergraben. Sie sind für die Kinder in vielerlei Hinsicht kein Vorbild. Der Zustand zermürbt viele bis zur Mutlosigkeit und die fehlende Perspektive wird von den Kindern erlebt. Der Einzelne wird nicht mehr zum Handelnden und Bestimmenden über seine Existenz. Dadurch werden staatliche Institutionen zu Feindbildern und die jungen „Banlieusards“ haben keine positive Beziehung mehr zum Arbeitsamt, zu Busfahrern, Feuerwehrleuten - sogar der Postbote symbolisiert das Negative, den Vertreter der feindlichen Macht. Das Verhältnis zum „Service public“ ist von Angst, Misstrauen und Aggressivität geprägt.



Die meisten der Bewohner der Cités haben zu Recht den Eindruck, allein aufgrund ihrer Hautfarbe und Herkunft von der Polizei kontrolliert zu werden. Es ist nicht allein die rassistische Einstellung der Beamten gegenüber den Menschen, Rassismus ist in der französischen Gesellschaft weit verbreitet. Antirassistische Vereinigungen können davon seitenlang berichten, dass Bewerbungen schon aufgrund des Namens aussortiert werden, wenn das nicht gelingt, wird der Kandidat spätestens beim Vorstellungsgespräch abgewimmelt. Ein weißer Franzose mit weniger guter Ausbildung oder fehlender Erfahrung hat erheblich mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Resultierend aus den täglichen Erfahrungen im Umgang mit den Franzosen der sauberen und konsumgierigen Innenstadt - Gesellschaft und den Behörden entsteht bei den Banlieusards eine Opfermentalität. „…die jungen sind von einem Misstrauen beseelt, das an Verfolgungswahn grenzt“, beschreibt der Soziologe Eric Marliére. Alles wird zum Zeichen einer imaginären polizeilichen Überwachung. Es reicht schon, wenn eine Person öfter auf einem Platz auftaucht oder ein Fremder in den Häuserschluchten gesehen wird, sofort wird es als Machtausübung des Staates, als Bespitzelung gesehen. Das alles umfassende, pathologische Misstrauen verhindert soziale Kontakte nach draußen. Für die „blacks“ und „beurs“ sind Weisse a priori Feinde und es geht soweit dass es zu einem antiweissen Rassismus kommt und ein kleiner Funke genügt um einen Flächenbrand zu entzünden.

Das Misstrauen und die Opfermentalität verhindern eine Mobilität der jungen Cités- Bewohner. Ihre räumliche Mobilität ist nicht größer als ihre soziale. Das Territorium der Beweglichkeit begrenzt sich auf die nähere Umgebung des Wohnorts und diese wird durch die Gemeinsamkeit verteidigt und beherrscht. Die Jungen stehen in einem Gruppenzwang dieser Kultur. Individuelles Handels wird unterbunden und dem Druck der Gruppe kann sich keiner entziehen. Wenn der Innenminister von „…verlorenem Territorium, das wieder erobert werden muss…“ spricht, wird dies von den Gruppen als Ankündigung eines Kampfes gegen ihr Gebiet, ihren verblieben Lebensmittelpunkt verstanden. Und in dieser Hoffnungslosigkeit ist die Verteidigung gegen die „Landnahme“ in den Augen der Bewohner nur legitim. Dazu kommt der Ehrenkodex der Gruppe, Rache zu nehmen für den „Polizeimord“ an den beiden Jugendlichen, die auf Ihrer Flucht ums Leben kamen. Die Bezeichnung der Cités- Bewohner als „racaille“ (verachtenswertes Gesindel) durch den Innenminister Sarkosy heizt die anti-gesellschaftliche Stimmung nochmals auf und bietet den „Straßenkämpfern“ eine zusätzliche Plattform, um die nächtlichen Feuer zu rechtfertigen.



„Gewalt ist der Ausdruck einer unterdrückten Subjektivität…., in der das Individuum der Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen beraubt wird“

Frankreichs Politiker sind in einer prekären bis peinlichen Lage und eine Antwort, die „Ausnahmezustand“ heißt, ist nur eine Verzögerung einer seit Jahrzehnten fälligen Lösung - und nicht eine Einstellung der bereits gelaufenen finanziellen Mittel zur Verbesserung der Lebenssituation und einer Konfliktvermeidung durch Prävention.



Die ersten größeren Unruhen fanden bereits

1979

in der Cité Olivier-de-Serres bei Lyon statt. Damals wurden Polizisten mit Steinen und teils mit Schüssen empfangen. Jugendliche stahlen in der Innenstadt von Paris einen Wagen und fuhren damit in das „Ghetto“, wo der Wagen abgebrannt wurde.

1981

war der „heisse Sommer“. Innerhalb von drei Monaten brennen in den verschieden Cités Autos. Die frisch gewählte linke Regierung beschließt in den unruhigen Zonen „mit ungleichen Maßnahmen, die ungleichen schulischen Bedingungen zu verbessern“.

15.10.1983

„marche des beurs“ tausende Bewohner der Cités marschieren zu Fuss nach Paris um gegen Ungleichheit und Rassismus zu demonstrieren.

1984

gründen die Sozialisten den Verein „SOS-Racisme“, der zu einem Club der Schöngeister abdriftet und der harten Realität in den Ghettos nichts entgegensetzten kann. Der einzige Erfolg dieser Maßnahme war die Abwendung der eingebürgerten Immigranten von der Linken.

6.10.1990

in Vaulx-en-Velin kommt ein junger, körperbehinderter Schwarzer bei einem Motorradunfall ums Leben. Der Motorradfahrer behauptet, die Polizei habe ihn geschnitten und er konnte den Unfall nicht mehr verhindern. (in den Folgejahren kommt es zu mehreren solcher Unfälle) Es kommt zu einem dreitägigen Aufruhr mit dutzenden Festnahmen und Verletzten. Am 12. November mischen sich junge Banlieusards unter demonstrierende Schüler und Studenten, schlagen Schaufenster ein und plündern Geschäfte.

4.12.1990

wird unter Mitterrand die „Vermenschlichung“ der Cités beschlossen. Hochhäuser für Sozial Bedürftige werden nicht mehr gebaut. An ihre Stelle kommen Einfamilienhäuser und die Subventionen der lokalen Kulturvereine werden erhöht. Die jetzige Regierung hat 2003 die Neubauten gestoppt und begonnen, die verhassten Hochhäuser zu sanieren. Die Förderung der Kultur- und Sozialvereine wird eingestellt, dadurch verschwinden hunderte von Anlaufstellen zur Verhinderung von Konflikten.

27.10.2005

Ausbruch von Unruhen in Clichy-sous-Bois. Bis zum 13. November 05 sind über 8500 Fahrzeuge ausgebrannt. Bemerkenswert ist, dass keine schweren Übergriffe der Polizei verzeichnet wurden.

14.11.2005

Präsident Chirac wendet sich an die Nation via Television und beschwört die Chancengleichheit aller Franzosen und verurteilt jegliche Diskriminierung. Verweist in der gleichen Ansprache auf die Herstellung der Ordnung und Bestraffung der „Schuldigen“ mit dem Satz „das unter allen Umständen dem Gesetz Achtung verschafft werde“.

Der Autor fragt sich: wo will Chirac die Hunderttausenden der sozial Ausgestoßenen und Diskriminierten einsperren? In ganz Europa wurden bis in die Siebziger Arbeitskräfte aus allen möglichen Ländern importiert. Im Zuge der Globalisierung sind diese Menschen und ihre Nachkommen überflüssig geworden und Europa besinnt sich wieder auf das Europäische und Althergebrachte. Das Problem ist nur, dass die ehemaligen „Gastarbeiter“ nicht die einzigen sind, die überflüssig in der Wohlstandsgesellschaft erscheinen. Menschen ohne Arbeit werden auch in Deutschland als beinahe Gesetzlose behandelt und können nur mehr in einem begrenzten Raum an Möglichkeiten leben und nicht nur die finanzielle Möglichkeit der Mobilität ist beschränkt, auch der Gesetzgeber denkt über eine Reisebeschränkung nach. Individuen ohne Job sind im Produktionsablauf nicht integrierbar, im Staatshaushalt unter Ausgaben verzeichnet und als Konsumenten nicht voll identifizierbar. Wohin damit?

Quelle: Studie über die Komponenten zu Gewaltausbrüchen von Michel Wieviorka.
Die Zitate stammen aus der Studie.
NZZ Nr.266

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