Samstag, 17. Juni 2006
Rückblick / pogledam nazaj
Abgesehen von geschwisterlichen und elterlichen Besuchen gibt es nur zwei Gründe an die Stätte der Kindheit für einige Tage zurück zu kehren. Entweder hat sich in der Erinnerung eine beschauliche Romantik über die vergangenen Zeiten des Werdens ausgebreitet oder statt verklärter Kindheitssicht, treten einem Dämon gleich die Jahre des Kind- und Jugendlichseins zutage. Vor Ort relativiert sich das Gefühl, es entspricht weder der Erinnerung in Abwesenheit noch der vergangenen Realität. Freude, Trauer graben sich aus dem Inneren hoch, imaginäre Türen zu damaligen Emotionen werden geöffnet und heraus fließt das Leben das geprägt hat. Und dennoch entspricht es nicht vollständig der wahren Empfindung von Damals. Zu viel inzwischen Gelebtes nimmt den amplitudenhaften Emotionsbegegnungen die Spitzen und die Tiefen. Das innere Messinstrument zu eichen, den Ausschlag nach oben und unten wieder spüren, die Gleichempfindlichkeit abzuschütteln, dazu dient ein Sehen und Fühlen am Ort der ersten Prägung.

Die Landschaft hat an schmerzhaft schöner Idylle durch die Abwesenheit gewonnen. Einige Tage, um die hier erlebten Jahre wieder mal zu spüren, einzutauchen in die erzählten Geschichten und erlebten Zeiten reichen nicht. Der Hof, das Haus, Wiesen, Felder, Wege , alles Vertraute, alte Bekannte die sich nun mit wenig Leben erfüllt, beschauen lassen. Alle Farben und Töne der Landschaft sind eingebrannt und in der Vorstellung wechselt das satte Grün der Gräser und Wälder problemlos ins herbstliche Bunt oder das schwere, weich zeichnende Licht des Sommers. Die Begleiter von früher sind gestorben mit dem Wissen der Verbundenheit zu dem Stück Erde das sie Mühe gekostet aber auch Freude gebracht hat oder sie sind weggezogen in ein leichteres, sicheres, komfortableres Leben. Kein Rufen nach den Kindern, kein Gerassel von Ketten aus dem Stall und auch das rumoren der hungrigen Tiere ist verstummt. Am alten Zuggeschirr der Pferde ist das Leder porös geworden, der mit Kalfonium gewachstem Garn der Nähte ist nicht mehr zu erkennen. Auf dem Speicher stehen noch die schweren Holzwagen für den Transport mit Pferden und die kleine dachlose Kutsche, das Lieblingsgefährt der Kinder wenn es den mal zu hohen Feiertagen oder Trauerfeierlichkeiten hinter das massige Pferd gespannt wurde, unproportional groß das mit Trauerbändern geschmückte Zugpferd zu der zierlichen Kutsche. Geregelte Aufgaben und Mitwirken am Hof begleitete die Kindheit, kein Tag ohne Wasser für die Tiere aus dem Brunnen zu schöpfen, bei sommerlicher Trockenheit aus dem entfernten See zu holen, im Frühling morgens die Kühe auf die Waldweiden zu bringen und spät abends beinahe schlafend das Essen zu verschlingen. Das sind die alltäglichen Dinge gewesen die sich nicht verscheuchen lassen. Ich habe das Gefühl den blechernen Eimer mit dem Seil suchen zu müssen um die Tränke zu füllen, den eisernen Korb holen und hinter der Scheune gespaltenes Holz zum Kochen und Brot backen in die Küche bringen, die dreispießige Gabel in der Hand um die Stallungen zu säubern. Die anerzogene Rastlosigkeit von Damals treibt den Wunsch auf die Berge zu steigen und von oben den nächsten Gipfel erspähen um auch diesen vom sinnleeren Aufholen getrieben, zu erklimmen.

Die kindliche Welt, bis zum ersten Schultag behütet, abgeschirmt vom Wissen des Andersseins und der bitteren Erfahrung von Nichtdazugehören endete mit einem Schlag. Erst neugierig und erpicht darauf die Sprache der Lehrer zu lernen, sich verständlich machen um zu erzählen und mathematische Aufgaben auch in Deutsch zu lösen, nach kurzer Zeit die Erkenntnis das es nicht reicht die Sprachebarriere zu überschreiten. Nein, in den Augen der Anderen der sich als bessere Menschen, da deutsch sprechend, selbst Verherrlichenden blieb man der „Windische“ (Schimpfwort für Slowenen). Windiges Lavieren war schnell erlernt, zwischen den Zeilen windender Sätze über Toleranz war die Hoffnung auf Anerkennen, nicht vollwertig - immerhin ein wenig mehr, zu hören, wenn nur die mütterliche Sprache und die Kultur abgelegt, verleugnet wurden. Erstaunlich wie schnell und wie viele sich dem Angebot beugten und verleugneten das ihr Name auch ihre Herkunft verrät. Der Wunsch zu flüchten aus diesem Desaster von verlogenen Versprechen und Zweitrangigkeit war sehr früh geboren. Flucht an einen Ort der ahnungslos ist und nicht unterscheidet zwischen Sprachen und Mentalitäten. Der erste Aufbruch zur Flucht waren Bücher, später das rastlose Suchen von Städten weltweit. Nein, nichts mehr ist von dem Schaubar nur der lächerliche Wunsch es noch mal zu erleben. Diese dumme Ungeduld, manch Unverarbeitetes noch mal zu durchtauchen ohne das es einen Schmerz hinterlässt.

Das südliche Kärnten und die Landeshauptstadt Klagenfurt. Ein Landstrich, eine Stadt der Denk- und Mahnmähler für eine Freiheit die, die Deutschkärntner nach dem Kriegsende 1918 und dem Zerfall des maroden Kaiserreiches mit den seit Jahrhunderten hier beheimateten Slowenen gegen die Machtansprüche des damaligen Jugoslawien erkämpften, auch unter der Mithilfe und des diplomatischen Eingreifens des Obersten Rats der Alliierten in Paris. 1920 bekannte sich die Mehrheit der Slowenen in einer Volksabstimmung zu Österreich, zu ihrer angestammten Heimat, zum sprachlichen Spagat zwischen deutschen Kaisern, Fürsten, deutschnationalen Landeshauptmännern und der eigenen Kultur. Zugegeben, mit Lockungen und Versprechen die tunlichst nach der Auszählung der Stimmen wieder revidiert wurden und so eine Kulturgruppe sekundärer, wenn nicht minderer Kärntner entstand. Die Geschichte ist auch hier eine Folge von Wiederholungen. Nach 1945 versuchte Jugoslawien wieder die Wirrnisse des Kriegsendes zu nutzen um das südliche Kärnten als ersten Schritt aus dem panserbischen Wunsch eine Realität zu schaffen. Die, in den letzten Kriegstagen aus Italien einrückenden Alliierten drängten die Jugoslawen wieder hinter die Grenze. Betroffen von den Morden und Vertreiben während des zweiten Weltkrieges waren die Menschen die an der Grenze lebten. In erster Linie Slowenen. Männer, Brüder und Söhne der Familien, vorwiegend waren es Bauern, wurden von den Nazis eingezogen, an den Fronten verheizt und zuhause im Niemandsland zwischen Faschismus und antifaschistischen Partisanen wurden die slowenischen Familien deportiert oder ermordet – von beiden Seiten. Wehrte sich jemand aus politischem Desinteresse oder Überzeugung gegen die Befehle der kommunismusnahen Partisanen wurden kurzerhand alle Verwandten vom Greis bis zum Säugling massakriert. Nicht anders erging es den Menschen die dem Druck nicht standhielten und die Freischärler aus dem Süden mit Nahrungsmittel und Unterschlupf versorgten. Hier griffen die Nazis ein und entledigten sich der Verirrten auf gleich brutale Weise. „In der Nacht kam der Tod über die Karawanken und am Tag wüteten mordend die Nazis an den Überlebenden…“ erzählte mir eine ältere Dame aus der Gegend, vor einigen Jahren. Die Nazis, das waren keine Soldaten aus dem Kernland des Dritten Reiches, diese Nazis kamen aus dem nächsten Dorf, aus der nächsten Stadt, es waren „deutsche Kärntner“.


Es ist auch eine Stadt in der die Geschichte nach Gutdünken gebogen und interpretiert wird. Die historischen Scheuklappen mussten schon sehr eng gestellt worden sein um ein Denkmahl für die von den Partisanen Ermordeten vor dem Klagenfurter Dom zu errichten. Ein Erinnern an die Ermordeten Klagenfurter Juden, Romas und Sinti, Andersdenkenden und die aus der Heimat vertriebenen Slowenen ist nicht zu finden. Zu viele ehrenhafte Bürger die mitmachten und die Vergangenheit einer Demenz gleich verschollen aus dem Gedächtnis. Wenige, sehr wenige sind mutig genug eine brauchbare Form von geschichtlicher Bewältigung zu betreiben.

2006: Anders als noch in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts sprechen und verstehen die Slowenen alle Deutsch und die Sprache aus der sie geboren sind klingt beinahe fremd. Kinder dürfen wieder slowenische Kindergärten besuchen und in den Schulen besinnt man sich der gemeinsamen Geschichte. Kulturelle Eigenheiten haben sich vermischt und selten denkt man noch an die gesprengten Denkmähler und abgerissenen Ortstafeln von früher. Oberflächlich scheint alles weit entfernt und vergessen. Es gibt kein Jugoslawien mehr. Die panserbische Idee glimmt im Untergrund und wurde nicht mit Milosevic begraben. Ein geborener Kärntner, Peter Handke trauert um diesen unberechenbaren Psychotiker, verehrt und beehrt ihn am Grab. Der Tod des Cholerikers, ist er ein Hoffnungsschimmer des Friedens für die Menschen am Balkan? Der ehemals zweite Erzfeind Slowenien ist politisch und wirtschaftlich in einem aufstrebenden Kurs, hat Kärnten wirtschaftlich überholt, nebenbei auch noch EU-Mitglied. Der Kärntner Abwehrkämpferbund besteht weiterhin und windet sich in Berechtigungserklärungen.

Zum dreißigsten Mal wird die literarische Sau durch die Stadt getrieben um Feuilletons der FAZ, NZZ und Süddeutschen zu füllen Eine versöhnende Geste für Ingeborg Bachmann. Bei der Menge an Denkstätten habe ich das „Robert Musil Haus“ nicht gefunden. Das Stück „Die Brandstifter“ wird nicht auf der Bühne des Staatstheaters gespielt. Einige Straßenzüge südlich ist die beamtete Stube des Possenreißers und Brandstifters dem ein ganzes Bundesland als Bühne zu Füssen liegt. Gesetzte und Vereinbarungen werden umgangen und die ortsankündenden Tafeln um einige Zentimeter versetzt damit diese nicht in zwei Sprachen das zu Erwartende künden. Was wären auch die zweisprachigen Ortstafeln heute? Nicht mehr als Grabmähler für eine längst verlorene Sprache und dialektische Eigenheiten. Nein, die Lettern dürfen sich nur in Deutsch vom reflektierenden Weiß abheben. Eine ernsthaft gemeinte Provinzposse die ohne Bedeutung wäre, wen der Hans Wurst nicht manchmal seine manische Phase dahingehend ausleben würde in dem er allen Ausländern und Fremden welcher Hautfarbe, Nationalität oder Religionszugehörigkeit auch immer zeigt wer der Herr ist, wer willkommen ist und wer draußen bleiben soll. Seine Nazi und SS verehrenden Weißheiten sind nicht mehr öffentlich zu vernehmen und was im Freundeskreis gesagt wird dringt auch nicht nach außen. Die richtigen Freunde finden sich hier schnell, es gibt eine Menge davon. So mancher Herrgottswinkel schmückt sich nicht allein mit dem Gekreuzigten, darunter im schlichten Rahmen das leicht verblichene schwarzweiß Bild des Großvaters in Wehrmachts- oder SS Uniform. Eine Ikone hat auch eine Rückseite und so mancher verbirgt hier seine wahre und unveränderte Gesinnung.

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Sehr eindringlich, wie Sie hier persönlich-biographisches in den regional-historischen Hintergrund einbetten. Ich wußte bislang nicht viel über die wechselvolle Geschichte dieses schönen Landstrichs, außer vielleicht, dass die Original Oberkrainer aus der Ecke rund um Kranj kommen und nicht etwa Kraijna-Serben aus Kroatien sind. ;-)) Die Sache mit den versetzten Ortsschildern in Kärnten habe ich dieser Tage nach unserer Rückkehr von da unten wie gesagt mehr oder weniger zufällig beim ORF gesehen. Und das hat mich zusätzlich neugierig darauf gemacht, mehr über den Hintergrund dieser bizarren Auseinandersetzung zu erfahren.

Mit dem Stichwort "panserbische Idee" haben Sie ein weiteres interessantes Fass aufgemacht (das mir mal wieder klar macht, wie wenig ich von der Regionalpolitik in dieser Weltgegend eigentlich verstehe). Gerade bei den Touren durch früheres Bürgerkriegsgebiet kamen wir immer wieder ins Grübeln, wie es dahin kommen konnte. Nun erinnere ich mich schemenhaft, dass die Slowenen ja als erste aus dem Vielvölkerstaat ausgeschert sind. Hätten sich die Slowenen also früher als Speerspitze einer panserbischen Bewegung Richtung Südkärnten überhaupt einspannen lassen?

Und, um die Assoziationskette noch ein bisschen weiterzuknüpfen: Als ich in den 80er Jahren erstmals mit der Musikgruppe Laibach in Berührung kam und von der Bewegung "neue slowenische Kunst (NSK)" hörte, habe ich diffus gespürt, dass in der Ecke mächtig was brodelt. Aber erst im Rückblick nach 1990/91 ist mir aufgefallen, wie symbolhaft diese Truppe die weitere Entwicklung schon vorweggenommen hatte: Laibach hatte die Queen-Nummer "My Vision" mit guttural vorgetragenem deutschen Text unter dem provokanten Titel "Geburt einer Nation" lanciert, als die Geburt der slowenischen Nation noch gut ein halbes Jahrzehnt entfernt war. Aber es zeichnet ja Künstler aus, dass sie Entwicklungen und Strömungen früh aufspüren und verarbeiten.

Aber was Peter Handke reitet, Milosevic als Messias zu verehren, da komm ich nun wirklich ins Grübeln. Vielleicht gehört Handke zu den Verschwörungstheoretikern, die Nato/Uno als Wegbereiter der "New World Order" sehen. In diesen paranoiden Kreisen vertreten tatsächlich einige die Auffassung, Serbien sei wegen seines mutigen Widerstands gegen die gottlose neue Weltordnung von der Nato bombardiert worden. Dass Handke ja auch auch Kärnten stammt, hatte ich gar nicht auf dem Schirm. Ich kann mir auch noch vorstellen, dass man vielleicht auch aus Opposition zu Heimatkämpfern und Deutschtümler-Bünden Sympathien für die slawische Seite entwickelt.

Wie auch immer: Mein Aufenthalt in dieser Ecke ermutigt mich, mein lückenhaftes Hintergrundwissen zu ergänzen in nächster Zeit. Als nächstes werde ich mir mal den bosnischen Reisebericht von Juli Zeh vornehmen. Das scheint mir doch zielführendere Lektüre zu sein als Handke...

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Momentan bin ich daran ein teils autobiographisches und teils aus Erzählungen zusammengetragene Familiengeschichten aus dieser Gegend und der Zeit ab 1920 bis 1970 zu einem Buch zu verarbeiten. Hoffe dass es bis 2007 zu schaffen ist.

Slowenien hatte bereits unter Marschall Tito eine Sonderstellung. 20% Bevölkerung leisteten ca. 80% des Gesamtyugoslawischen Bruttonationalprodukts. Zwar eingebunden in die yugoslawische Union wurden dem Land doch Sonderrechte gewährt und nach dem Tod Titos, aus heutiger Sicht ein sehr kluger Taktiker, versuchte sich Slowenien kontinuierlich abzuspalten. Eines der ersten Höhepunkte die den Ausdruck der Unzufriedenheit ans Licht brachten war sicher die provokante Musikszene in Leibach. Später rief die Jugendzeitschrift „MLADEC“ zu einer offenen Abspaltung auf und war auch der größte Stimmungsmacher in der Bevölkerung. Kunst und Kultur brodeln heute noch in dieser Stadt und sind für manche zukünftige Richtung in der Underground Szene wegweisend.

Antifaschistische und links tendierende Partisanen waren mit Sicherheit auch unter den Slowenen aus Slowenien zu finden. Zur „Sperrspitze“ erklärten sich nach dem Krieg viele und erhoben damit von Serbien aufgestachelt den Anspruch auf Unterkärnten. Wobei ich der Meinung bin das heute 60 Jahre nach dem Krieg immer noch zum leichteren Ausmachen von Feindbildern, dem kommunistischen Kampfgeist eine viel zu große Rolle beigemessen wird. Bei den Partisanen, die von den klüftigen Karawanken aus operierten waren auch Deutsche, Italiener und Franzosen mit nazifeindlicher Gesinnung zu finden.

Panserbien. Die Geschichte der Serben erstreckt sich von Russland über den antiken südlichen Balkan bis hin zur Donaumonarchie. Der Einfluss der Serben war nicht gering und ein kämpferisches Volk dazu, ständig bestrebt sich der Obrigkeit zu entledigen und zu expandieren. Tito siedelte in Bosnien Muslime als Puffer zu Kroatien, Slowenien und das westliche Europa. Ein vorerst kluger Schachzug der im Balkankrieg fatale Folgen hatte. Die Muslime gerieten zwischen die Fronten und ethnische Säuberungen wurden von beiden Seiten, Kroaten und Serben durchgeführt um sich nebenbei auch noch gegenseitig die Schädel einzurennen.

Peter Handkes Sicht der Serben ist insofern nicht verständlich als er sie mit Milosevic und dem sinnlosen Morden verbindet. Irgendwie hat er Heilung seiner inneren Zerrissenheit in die falsche Richtung gelenkt. Seine geschriebenen Spaziergänge durch den Balkan sind nicht falsch solange sie nicht politisch gesehen werden.

Wesentlich für den Frieden in Europa und der Zukunft des Balkans ist die Aufnahme von Serbien und Kroatien in die europäische Union. Viele der serbischen Minderwertigkeitskomplexe könnten so besser unter Kontrolle gehalten werden.

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Das massive wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle liefert in der Tat ein plausibles Motiv für die Abspaltung Sloweniens (und bezieht man die von Touristen ins Land gebrachten Devisen mit ein auch Kroatiens) von Restjugoslawien. Dass Tito aus machtstrategischen Gründen die Grenzen der Teilrepubliken nicht genau entlang der ethnischen Mehrheitsverteilungen gezogen hatte, stand auch auch in unserem Reiseführer - nicht aber, dass es auch Umsiedlungen gegeben hatte.

Ich weiß noch, wie mir in den frühen 90ern beim Schauen der Nachrichten schier der Kopf platzte vor lauter ethnischen und religiösen) Minderheiten in mir bis dato völlig unbekannten Gegenden wie Ost-Slawonien, Krajina, Podravina, Vojvodina, Herzegowina. Nicht zu reden von albanischen Amselfeld-Ambitionen und griechisch-slawischen Einfluss-Sphärengrenzen in Mazedonien. Das alles kam mir streckenweise bei aller grauenhaften Realität so absurd vor, als würden die Mannheimer auf einmal anfangen, Truppen auszuheben, um gegen Hessen, Ba-Wü und Rheinland-Pfalz in den Krieg zu ziehen mit dem Ziel, die alte Kurpfalz in den Grenzen vor 1805 wieder zu restituieren. So sehr ich mit Ihnen einer Meinung bin, dass es auf Dauer unausweichlich sein wird, neben Kroatien auch Serbien in den EU-Verbund einzugliedern bin ich doch eher skeptisch, ob sich die jahrhundertealten Konflikte in dieser Region damit auf Dauer unter dem Deckel halten lassen...

Ihr Buchprojekt klingt nach einer verdammt spannenden Sache. Ich höre in letzter Zeit öfters im Kollegenkreis von solchen und ähnlichen Vorhaben. Es gibt wohl ein zunehmendes Bedürfnis, die eigene und familiäre Geschichte in die allgemeine und übergreifende Historie einzubetten. So gesehen bedaure ich es sehr, dass mein 1920 in der Nähe von Lemberg geborener Vater nie wirklich viel erzählt hat, was als Ausgangspunkt einer Spurensuche dort dienen könnte...

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Lemberg in Polen?? ...es fallen die Schuppen von den Augen :--))

Sicher ist die Idee eines Buches zu dieser Thematik auch so was wie Aufarbeitung, bzw. auch Vertiefung familiärer und damit auch eigner Geschichte. Da Sie hier schon die Väter angesprochen haben, ich glaube der wahre Hintergrund zum Berichten verbirgt sich hinter der ehemals verbreiteten Sprachlosigkeit der Väter.

Zu dem Völkergewirr auf dem Balkan. Es scheint beinahe jedes größere Dorf eine eigene Herkunft und eine abstechende Kultur zu haben. Die Unterteilung kann auch einfacher sein - ohne ethnisches Unrecht zu begehen. Der wesentliche Unterschied liegt nicht in der Sprache oder eigenständigen Esskultur. Serben sind orthodoxe Christen mit russischen Wurzeln, Kroaten und Slowenen gläubige Katholiken mit einem ehemals großen Ausbreitungsgebiet. Die aufgetauchten Muslime stammen teils noch aus dem osmanischen Reich. Ehrlich gesagt kenne ich Niemanden der neutral und objektiv die einzelnen Unterschiede genauer erklären könnte und selbst musste ich auch schon mal gelerntes wieder revidieren, zugunsten anderer Erkenntnisse.

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Streng genommen
nicht Polen, sondern Ukraine. Womit wir schon wieder bei ethnisch-historisch-regionalen Spitzfindigkeiten wären. Denn in der Ecke ist der Flickenteppich nicht minder kompliziert gewebt aus Ukrainern, Tschechen, Polen, Karpatho-Ruthenen, einem ehemals sehr hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, zwischenzeitlicher kuk-Herrschaft und was nicht alles. Vor dem 2. Weltkrieg stand diese Gegend in der Tat unter polnischer Oberherrschaft, weswegen die deutschen Truppen dort relativ freundlich begrüßt wurden. Als im Dorf Fremdarbeiter für die Landwirtschaft in Deutschland rekrutiert wurden, meldete sich mein Vater freiwillig. Wäre er ein paar Zentimeter größer gewesen, hätte es vielleicht auch für die Waffen-SS gereicht...

Ja, die Sprachlosigkeit der Väter, das ist in der Tat ein ganz zentraler Punkt bei vielen, die ihre Familiengeschichte aufarbeiten. In meinem Fall eher ein Hinderungsgrund, denn mit den paar Fragmenten, die ich habe, komme ich väterlicherseits nicht weit, zumal sich die Spur seines Vaters in den USA verliert. Und mütterlicherseits findet sich im Bauerntum von Badisch-Sibirien nicht sooo viel Interessantes und Spektakuläres.

Aber nochmal zurück auf den Balkan: Die bosnischen Muslime sind meines Wissens keine (ortsfremden) Relikte der osmanischen Herrschaft oder Zwangsbekehrte, sondern freiwillige Konvertiten, die in irgendeinem der zahllosen Regional-Konflikte zwischen orthodoxen und römisch-katholischen Kräften einen "dritten Weg" suchten, bevor die ganze Ecke unter osmanische Oberherrschaft geriet. Das sehen Sie ja auch an den Familiennamen. Die bosnischen Muslime heißen größtenteils irgendwas mit - ic am Ende (siehe Izetbegovic). Ich glaube nicht, dass deren Vorfahren alle Ali Mustafa Öztürk und so geheißen haben. ;-)

Aber wie Sie selber sagen: Man weiß da ja immer nur Bruchstücke, von denen man auch manche wieder verwerfen muss im Lichte neurer Erkenntnisse. Für mich aus der Ferne sieht der Unterschied zwischen Serben und Kroaten kaum größer aus als sagen wir zwischen Franken und Friesen oder Bayern und Berlinern. Aber wenn ich mal hergehe und die bewegte Geschichte eines so übersichtlichen Gebiets wie etwa des Rhein-Neckar-Dreiecks (sprich: die frühere Kurpfalz) betrachte, dann sind die Verhältnisse kaum einfacher als auf dem Balkan: Religionskriege, Erbfolgestreitigkeiten, napoleonische Besetzung und Verschwinden von der politischen Landkarte vor über 200 Jahren - und trotzdem existiert innerhalb der alten Grenzen noch so etwas wie ein eigenständiges Regionalbewusstsein fort.

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Zu den bosnischen Muslime: Sie haben natürlich Recht! Meine Worte diesbezüglich sind nicht klar genug formuliert.

Ich schrieb von „Schuppen“ weil mir plötzlich einfiel woher ich Ihren Nachnamen kenne und der Zusammenhang mit den ukrainischen Landwirtschaftshelfern lässt mich aufhorchen.

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Der Name sagt Ihnen was?
Der einzige mir bekannte Hauch von C-Prominenz in Verbindung mit meinem Nachnamen findet sich im näheren familiären Umfeld (und angeblich auch im Oeuvre) von Fjodor Dostojewski. Ach ja, und die Frau des Cousins meines Vaters ist eine geborene Klitschko, aber das haben Sie sicher nicht gemeint. ;-)

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reiner Zufall
habe den Namen nur öfter in meiner Kindheit gehöt - im Zusammenhang mit Lemberg und ukrainischen Landwirtschaftshelfern.

Wie gesagt! Reiner Zufall

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Nee, oder?
Sie nehmen mich doch hopp!? Das wär ja ein Ding. Andererseits: Warum sollten mein Vater und sein Cousin (den es in fränkische Weinbaugebiete verschlagen hat) die einzigen gewesen sein? Mein Vater hatte mal erwähnt, dass der Name in den dortigen Dörfern sehr häufig vorkam. Die Deutschen haben sicher mehr als nur zwei junge Männer pro Dorf rekrutiert...

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Nein, ich will Sie nicht verschaukeln.

Kann mir gut vorstellen dass es mehrere Familien mit diesem Namen gab. Das Foto ist etwa 1943 -1945 aufgenommen. Der Vorname dieses etwa 25 jährigen Herrn war (ist), soweit ich mich erinnern kann Paul – muss aber noch mal nachfragen.

Interessant ist für mich ist, der zufällig gleiche Namen, Lemberg und die rekrutierten Helfer. Meine Großmutter, keine Frau von Traurigkeit erzählte im Zusammenhang mit dem Krieg immer über ihn, vom Großvater sehr selten. Nach dem Ende des Krieges zog er mit einigen seiner Landsleute die aus dem Süden kamen, unbestimmten Ortes weiter.

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Der Herr auf dem Bild
ist auf alle Fälle Altersgenosse meines Vaters. Ob auch verwandt, werden wir wohl nie erfahren. Aber ich kann das Bild vielleicht mal dem Cousin meines Vaters zukommen lassen. Der hat in den letzten Jahren auch mehr Interesse an familiärer Genealogie gezeigt, wohingegen mein Vater keinen gesteigerten Wissensdrang in diese Richtung verspürte. Daher auch meine gigantischen Wissenslücken über diesen Zweig meiner Vorfahren. Einige Verwandtschaft wurde wohl nach dem Krieg in Polen (vor allem im Raum Stettin angesiedelt), und meine Mutter unterhält da auch noch vage Kontakte per Postkarte und Brief. Ich selber habe aber zu diesen erzreaktionär-fanatischen Katholen, die jedes Jahr nach Tschenstochau pilgern, keinen Draht aufbauen können...

Aber wie auch immer: Diese Parallele, dass jemand dieses Namens mit ähnlichem Background wie mein Vater auch in Ihrer Familiengeschichte kurz auftaucht, das ist schon wirklich sehr frappierend.

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Auf Nachfrage
zur Erklärung des „Ortstafelkonflikts“ ist hier ein offener Brief der Gesellschaft für bedrohte Völker.
(offener brief (pdf, 83 KB) )

Zur Situation der Slowenen in Yugoslawien nach 1945 habe ich folgenden selbstkritischen Essay des slowenischen Schriftstellers Drago Janzar, veröffentlicht in der NZZ am 25.02.2006, gefunden. (drago janzar (pdf, 20 KB) )

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