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Donnerstag, 12. Januar 2006
Ein Mensch wie Du und ich – ein Plädoyer gegen die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
nicodemus, 00:11h
Hier nun ein Novum bei Moment________________________ - ein eigens für diesen Blog verfasster Beitrag einer Gastautorin (ihres Zeichens angehende Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie), die dem Verantwortlichen dieser Seiten (@nicodemus) namentlich bekannt, bestens vertraut und gewogen ist. Ein Folgebeitrag zu dem vorangegangenen Post Psychische Leiden der Europäer.
„Sie sehen doch ganz nett aus – und Sie sind Psychiaterin?“
So verschieden menschliche Begegnungen auch sein mögen – sie folgen oft einem festen Ritus. Nach der namentlichen Vorstellung und einer kurzen Erläuterung, warum man ausgerechnet heute hier (in diesem Zug, auf dieser Party, bei diesem langweiligen Stehempfang) ist, folgt meistens (und noch vor dem Gespräch über das Wetter) die Frage: „und, was machst du/machen sie denn beruflich?“. Seit meine Antwort nicht mehr „Studentin“ sondern „Ärztin“ lautet, beginnen viele mir bis dahin völlig unbekannte Menschen, ungefragt Körperteile zu entblößen – ich könne doch sicher mal eben sagen, was mit dem Ellenbogen oder dem Schienbein los sei. Viele fragen aber vorher noch, welche Fachrichtung denn die meine sei – wahrscheinlich um eine gezieltere Auswahl der zu präsentierenden Körperteile und ihrer Veränderungen vornehmen zu können. Seit meine Antwort „ich arbeite in der Psychiatrie“ lautet, bleibt die Kleidung meiner Gesprächspartner, wo sie hingehört – und ich blicke in erstaunt-erschreckte Gesichter. Die regelhaft entstehende kurze Gesprächspause nutze ich, um mit mir eine Wette abzuschließen – welche der (scheinbar einzigen) beiden möglichen Erwiderungen wird mein Gegenüber wählen? Schon an der Körperhaltung sehe ich, für welche er sich entschieden hat: ein Schritt zurück, verlegen-unsicheres Lächeln, ein schneller Blick in die Runde – und dann Variante 1: „huch, hoffentlich habe ich da nicht schon zu viel gesagt! Sie als Psychiaterin durchschauen einen ja sofort – und einen kleinen Schuss hat ja wohl jeder!?“. Variante 2 wird eingeleitet durch eine verständnisvoll-betroffene Mimik, einen kleinen Schritt auf mich zu, manchmal wird auch noch die Hand auf meinen Arm gelegt: „ Ach, da haben sie aber einen schweren Beruf. Das könnte ich ja nicht machen! Wie sie das schaffen, all diese armen Menschen -und so hoffnungslos… Haben sie da nicht Angst, dass etwas abfärbt von der Verrücktheit auf sie?“.
Sicherlich ist das an sich nichts Besonderes – auch Müllmänner, Pilotinnen oder Quantenphysiker werden wahrscheinlich mit immer den gleichen Stereotypen konfrontiert, wenn sie ihren Beruf nennen. Aber die beiden beschriebenen Varianten sagen ja nicht vor allem etwas über meinen Beruf aus – sondern über die Bilder, die von den Menschen existieren, die von einer Psychiaterin behandelt werden. Und mit diesen Bildern werden meine Patientinnen und Patienten konfrontiert – in ihrer Familie, in ihrem Dorf, an ihrem Arbeitsplatz, in ihrem Freundeskreis.
Diese Bilder von Menschen, die Erfahrung mit PsychiaterInnen und der Psychiatrie haben, sind Vorurteile, die aus einem Ehemann, einer Tochter, einem Freund, einer Kollegin, einem Nachbarn, einer Lehrerin etwas Neues, Anderes, Fremdes, Beängstigendes, Gefährliches machen – nämlich eine „psychisch Kranke“, einen „psychisch Kranken“. Bei dem man nicht mehr so genau weiß, wie mit ihm zu reden ist – über den man aber spricht (zumindest hinter vorgehaltener Hand). Bei der nicht mehr klar ist, wie man sie behandeln soll – wo sie doch in ‚psychiatrischer Behandlung’ ist. Der beobachtet wird – sieht er nicht plötzlich auch ‚ganz komisch’ aus? Und weil fast niemand weiß, was eigentlich los ist, haben es alle schon immer gewusst. Und weil Nicht-Wissen Angst macht, hält man lieber mal „ein bisschen Abstand“ – „man weiß ja nie“.
Und so folgt der Diagnose einer psychischen Erkrankung und ihrer psychiatrischen Behandlung oft die viel fatalere ‚Etikettierung’ eines Menschen als „psychisch krank“ – er wird exkommuniziert aus bisherigen Zusammenhängen, indem man sich von ihm zurückzieht und ihn stigmatisiert als einen, der jetzt und für alle Zeit „anders“ ist. Und es entsteht aus der diffusen Idee, ‚anders’ könnte ‚irgendwie gefährlich’ sein sehr schnell die Idee, diese ‚armen Menschen’ sollten ‚weggeschlossen’ werden – um sich selbst und anderen nicht zu schaden.
Es gibt in der Tat Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung phasenweise vor Schaden bewahrt werden müssen – weil ihr Kontakt zur ‚Realität’ brüchig geworden ist, und sie beispielsweise glauben, sie könnten fliegen, wenn sie vom Balkon im 7. Stock springen. Oder weil sie in ihrem Kopf eine Stimme hören, die sie dem ‚Satan’ zuschreiben und die sie auffordert, sich zu töten, um die Welt zu retten. Oder die aufgrund einer fortgeschrittenen Demenz im Nachthemd bei Minusgraden durch die Gegend irren, um ihre seit 30 Jahren verstorbene Mutter zu suchen.
Und sicherlich gibt es Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung phasenweise davor bewahrt werden müssen, anderen Schaden zuzufügen – weil sie glauben, sie müssten im Auftrag der CIA ab heute den Linksverkehr auf der Straße einführen. Oder die sicher sind, der Nachbar leite Giftgas in die Wohnung und müsse dafür bestraft werden.
Diese Menschen kommen (neben vielen anderen) in psychiatrische Kliniken. Die in der Regel nicht mehr von hohen Mauern umgeben und deren Fenster nicht vergittert sind. Wo es weder Zwangsjacken noch Gummizellen gibt. Wo es nicht um das ‚wegsperren’, sondern die Behandlung der Erkrankung geht, die Schaden anrichtet. Glücklicherweise haben wir heute für die meisten psychischen Erkrankungen Medikamente, deren positive Wirkungen die unerwünschten Nebenwirkungen bei weitem übersteigen. Die Fernsehbilder von dumpf herumsitzenden, sabbernden Zombies haben mit der Realität psychiatrischer Behandlung heute so wenig zu tun wie George Bushs Angriffe auf den Irak mit einem ‚gerechten Krieg’. Psychische Erkrankungen sind in der Regel gut behandelbar – wenn auch in vielen Fällen ebenso wenig ‚heilbar’ wie eine Vielzahl von Erkrankungen (Ärzte können weder einen zu hohen Blutdruck noch eine Zuckerkrankheit ‚heilen’ – nur die Symptome können behandelt, im besten Fall zum Verschwinden gebracht werden). Viele psychische Erkrankungen verlaufen phasenhaft – und so wie ein Mensch mit Heuschnupfen die meiste Zeit seines Lebens symptomfrei und subjektiv ‚gesund’ ist, gilt das auch für die meisten Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Einem Menschen den Stempel der Stigmatisierung aufzudrücken, weil er eine psychische Erkrankung hat, in psychiatrischer Behandlung war oder ist, steht in der Tradition der Ausgrenzung und Abschiebung, deren Folgen tausende Patientinnen und Patienten (nicht nur) psychiatrischer Kliniken im Rahmen des „Euthanasie-Programmes“ mit dem Leben bezahlt haben. Unsere Patientinnen und Patienten stehen in unserer auf ‚Leistungsfähigkeit’ und ‚Produktivität’ orientierten Gesellschaft oft am Rand – weil sie eben nicht immer ‚funktionieren’, am Mainstream vorbei eigene Wege gehen und ihre Umgebung durch ihr manchmal Anders-Sein verschrecken, irritieren und zur Abgrenzung herausfordern.
Ich bin mir absolut sicher, dass nichts mich davor schützt, morgen oder übermorgen oder in einigen Jahren selbst psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Niemand ist davor gefeit, eine Depression, eine Psychose oder eine Demenz zu entwickeln – niemand. Keine genetische Disposition, keine Abstinenz von Alkohol oder Drogen, kein gesunder Lebenswandel bieten einen ‚sicheren Schutz’ davor.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der ich auf meine Aussage „ich bin Psychiaterin“ nicht mitleidig belächelt oder ehrfürchtig-erschrocken angeschaut werde – denn ich habe einen tollen Beruf, der mich erfüllt. Viel mehr aber wünsche ich mir eine Gesellschaft, in der ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung als das gesehen wird, was er ist: als Mensch wie ich, wie du, wie wir.
„Sie sehen doch ganz nett aus – und Sie sind Psychiaterin?“
So verschieden menschliche Begegnungen auch sein mögen – sie folgen oft einem festen Ritus. Nach der namentlichen Vorstellung und einer kurzen Erläuterung, warum man ausgerechnet heute hier (in diesem Zug, auf dieser Party, bei diesem langweiligen Stehempfang) ist, folgt meistens (und noch vor dem Gespräch über das Wetter) die Frage: „und, was machst du/machen sie denn beruflich?“. Seit meine Antwort nicht mehr „Studentin“ sondern „Ärztin“ lautet, beginnen viele mir bis dahin völlig unbekannte Menschen, ungefragt Körperteile zu entblößen – ich könne doch sicher mal eben sagen, was mit dem Ellenbogen oder dem Schienbein los sei. Viele fragen aber vorher noch, welche Fachrichtung denn die meine sei – wahrscheinlich um eine gezieltere Auswahl der zu präsentierenden Körperteile und ihrer Veränderungen vornehmen zu können. Seit meine Antwort „ich arbeite in der Psychiatrie“ lautet, bleibt die Kleidung meiner Gesprächspartner, wo sie hingehört – und ich blicke in erstaunt-erschreckte Gesichter. Die regelhaft entstehende kurze Gesprächspause nutze ich, um mit mir eine Wette abzuschließen – welche der (scheinbar einzigen) beiden möglichen Erwiderungen wird mein Gegenüber wählen? Schon an der Körperhaltung sehe ich, für welche er sich entschieden hat: ein Schritt zurück, verlegen-unsicheres Lächeln, ein schneller Blick in die Runde – und dann Variante 1: „huch, hoffentlich habe ich da nicht schon zu viel gesagt! Sie als Psychiaterin durchschauen einen ja sofort – und einen kleinen Schuss hat ja wohl jeder!?“. Variante 2 wird eingeleitet durch eine verständnisvoll-betroffene Mimik, einen kleinen Schritt auf mich zu, manchmal wird auch noch die Hand auf meinen Arm gelegt: „ Ach, da haben sie aber einen schweren Beruf. Das könnte ich ja nicht machen! Wie sie das schaffen, all diese armen Menschen -und so hoffnungslos… Haben sie da nicht Angst, dass etwas abfärbt von der Verrücktheit auf sie?“.
Sicherlich ist das an sich nichts Besonderes – auch Müllmänner, Pilotinnen oder Quantenphysiker werden wahrscheinlich mit immer den gleichen Stereotypen konfrontiert, wenn sie ihren Beruf nennen. Aber die beiden beschriebenen Varianten sagen ja nicht vor allem etwas über meinen Beruf aus – sondern über die Bilder, die von den Menschen existieren, die von einer Psychiaterin behandelt werden. Und mit diesen Bildern werden meine Patientinnen und Patienten konfrontiert – in ihrer Familie, in ihrem Dorf, an ihrem Arbeitsplatz, in ihrem Freundeskreis.
Diese Bilder von Menschen, die Erfahrung mit PsychiaterInnen und der Psychiatrie haben, sind Vorurteile, die aus einem Ehemann, einer Tochter, einem Freund, einer Kollegin, einem Nachbarn, einer Lehrerin etwas Neues, Anderes, Fremdes, Beängstigendes, Gefährliches machen – nämlich eine „psychisch Kranke“, einen „psychisch Kranken“. Bei dem man nicht mehr so genau weiß, wie mit ihm zu reden ist – über den man aber spricht (zumindest hinter vorgehaltener Hand). Bei der nicht mehr klar ist, wie man sie behandeln soll – wo sie doch in ‚psychiatrischer Behandlung’ ist. Der beobachtet wird – sieht er nicht plötzlich auch ‚ganz komisch’ aus? Und weil fast niemand weiß, was eigentlich los ist, haben es alle schon immer gewusst. Und weil Nicht-Wissen Angst macht, hält man lieber mal „ein bisschen Abstand“ – „man weiß ja nie“.
Und so folgt der Diagnose einer psychischen Erkrankung und ihrer psychiatrischen Behandlung oft die viel fatalere ‚Etikettierung’ eines Menschen als „psychisch krank“ – er wird exkommuniziert aus bisherigen Zusammenhängen, indem man sich von ihm zurückzieht und ihn stigmatisiert als einen, der jetzt und für alle Zeit „anders“ ist. Und es entsteht aus der diffusen Idee, ‚anders’ könnte ‚irgendwie gefährlich’ sein sehr schnell die Idee, diese ‚armen Menschen’ sollten ‚weggeschlossen’ werden – um sich selbst und anderen nicht zu schaden.
Es gibt in der Tat Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung phasenweise vor Schaden bewahrt werden müssen – weil ihr Kontakt zur ‚Realität’ brüchig geworden ist, und sie beispielsweise glauben, sie könnten fliegen, wenn sie vom Balkon im 7. Stock springen. Oder weil sie in ihrem Kopf eine Stimme hören, die sie dem ‚Satan’ zuschreiben und die sie auffordert, sich zu töten, um die Welt zu retten. Oder die aufgrund einer fortgeschrittenen Demenz im Nachthemd bei Minusgraden durch die Gegend irren, um ihre seit 30 Jahren verstorbene Mutter zu suchen.
Und sicherlich gibt es Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung phasenweise davor bewahrt werden müssen, anderen Schaden zuzufügen – weil sie glauben, sie müssten im Auftrag der CIA ab heute den Linksverkehr auf der Straße einführen. Oder die sicher sind, der Nachbar leite Giftgas in die Wohnung und müsse dafür bestraft werden.
Diese Menschen kommen (neben vielen anderen) in psychiatrische Kliniken. Die in der Regel nicht mehr von hohen Mauern umgeben und deren Fenster nicht vergittert sind. Wo es weder Zwangsjacken noch Gummizellen gibt. Wo es nicht um das ‚wegsperren’, sondern die Behandlung der Erkrankung geht, die Schaden anrichtet. Glücklicherweise haben wir heute für die meisten psychischen Erkrankungen Medikamente, deren positive Wirkungen die unerwünschten Nebenwirkungen bei weitem übersteigen. Die Fernsehbilder von dumpf herumsitzenden, sabbernden Zombies haben mit der Realität psychiatrischer Behandlung heute so wenig zu tun wie George Bushs Angriffe auf den Irak mit einem ‚gerechten Krieg’. Psychische Erkrankungen sind in der Regel gut behandelbar – wenn auch in vielen Fällen ebenso wenig ‚heilbar’ wie eine Vielzahl von Erkrankungen (Ärzte können weder einen zu hohen Blutdruck noch eine Zuckerkrankheit ‚heilen’ – nur die Symptome können behandelt, im besten Fall zum Verschwinden gebracht werden). Viele psychische Erkrankungen verlaufen phasenhaft – und so wie ein Mensch mit Heuschnupfen die meiste Zeit seines Lebens symptomfrei und subjektiv ‚gesund’ ist, gilt das auch für die meisten Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Einem Menschen den Stempel der Stigmatisierung aufzudrücken, weil er eine psychische Erkrankung hat, in psychiatrischer Behandlung war oder ist, steht in der Tradition der Ausgrenzung und Abschiebung, deren Folgen tausende Patientinnen und Patienten (nicht nur) psychiatrischer Kliniken im Rahmen des „Euthanasie-Programmes“ mit dem Leben bezahlt haben. Unsere Patientinnen und Patienten stehen in unserer auf ‚Leistungsfähigkeit’ und ‚Produktivität’ orientierten Gesellschaft oft am Rand – weil sie eben nicht immer ‚funktionieren’, am Mainstream vorbei eigene Wege gehen und ihre Umgebung durch ihr manchmal Anders-Sein verschrecken, irritieren und zur Abgrenzung herausfordern.
Ich bin mir absolut sicher, dass nichts mich davor schützt, morgen oder übermorgen oder in einigen Jahren selbst psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Niemand ist davor gefeit, eine Depression, eine Psychose oder eine Demenz zu entwickeln – niemand. Keine genetische Disposition, keine Abstinenz von Alkohol oder Drogen, kein gesunder Lebenswandel bieten einen ‚sicheren Schutz’ davor.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der ich auf meine Aussage „ich bin Psychiaterin“ nicht mitleidig belächelt oder ehrfürchtig-erschrocken angeschaut werde – denn ich habe einen tollen Beruf, der mich erfüllt. Viel mehr aber wünsche ich mir eine Gesellschaft, in der ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung als das gesehen wird, was er ist: als Mensch wie ich, wie du, wie wir.
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